Auf dem Bundesparteitag im Dezember 2019 entscheidet die SPD über ihr größtes Strukturupdate in Jahrzehnten. Online-Themenforen, neue Formen der Meinungsfindung, ein Mitgliederbeirat und vieles mehr. Die organisationspolitische Kommission, in die nicht nur viele Ideen von SPD++ eingeflossen sind, sondern in der auch zwei Mitglieder von SPD++ mitgearbeitet haben, hat nun ihre Ergebnisse und Vorschläge vorgelegt.

Vorbemerkungen

Der SPD-Parteivorstand hat Ende 2018 die Organisationspolitische Kommission eingesetzt, die sich mit den strukturellen Fragen der Partei auseinandersetzen sollte. In der „Orgakom“ sollten bestehende Strukturen überprüft, modernisiert oder möglicherweise abgeschafft werden. Für uns als SPD++ war es auch wichtig, dass neue Beteiligungsformate geschaffen werden. Die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles und der Generalsekretär Lars Klingbeil haben bei der Einsetzung der Kommission betont, dass es keine Denkverbote geben darf und dass es einen großen Willen zur Neustrukturierung gibt. Neben Vertreterïnnen der Landesverbände und des Parteivorstands sowie einigen wissenschaftlichen Vertreterïnnen, wurden wir, Verena Hubertz und Henning Tillmann, mit in die Kommission berufen. Zum einen unsere Digitalexpertise, zum anderen die mit SPD++ eingebrachten Strukturvorschläge (siehe Kampagnenseite 2017) waren die Gründe für unsere Berufung – ein erstes wichtiges Zeichen der Parteispitze, dass nicht nur die „klassischen Strukturen” an der Diskussion beteiligt werden sollten. Wir haben unsere Berufung in das Gremium sehr ernst genommen und somit war es uns wichtig, viele wohl überlegte Vorschläge zur strukturellen Erneuerung einzubringen. Außerdem möchten wir transparent darlegen, wie die Debatten innerhalb der SPD aktuell verlaufen, wofür wir uns eingesetzt haben und was nun beschlossen wurde.

Arbeitsweise der Orgakom

Verena und Henning nach der ersten Orgakom-Sitzung im Januar 2019.

Die gesamte Kommission traf sich nur zweimal, da sich alle auf eine Arbeitsstruktur in arbeitsfähigen Kleingruppen ausgesprochen haben. Das entscheidende zweite Treffen fand dieses Wochenende in Berlin statt. Beim Kick-Off wurden Arbeitskreise gebildet, die sich mit Teilaspekten der Erneuerung auseinandergesetzt haben. Hier gab es Arbeitskreise zum Wahlkampf, den Arbeitsgemeinschaften, der Verankerung der Partei in der Gesellschaft und einige mehr. Wir, Verena und Henning, haben uns insbesondere in dem Arbeitskreis „Strukturen und Entscheidungswege“ engagiert und Ideen eingebracht. Im Frühjahr und Sommer hatte unser Arbeitskreis gut zehn (Online-)Sitzungen. Hinzu kam viel Textarbeit, bilaterale Abstimmungen und weitere Vorbereitungszeit.

Wir möchten hier drei Themen genauer vorstellen, für die wir uns im Arbeitskreis und in der Orgakom generell eingesetzt haben, und die dort sowie im Parteivorstand eine Mehrheit fanden. Wir möchten ausdrücklich betonen, dass die Arbeitsatmosphäre in der Orgakom sehr konstruktiv war. Dem Großteil war der Erneuerungswille klar anzumerken, manche Punkte wurden kritisch diskutiert. Die hier vorgestellten Beschlüsse sind daher Gemeinschaftsergebnisse. An den ein oder anderen Stellen hätten wir, also Verena und Henning, uns auch weitergehende Initiativen vorstellen können – wir können aber die Ergebnisse voll und ganz mittragen. Alle Konzepte müssen aber noch auf dem Bundesparteitag im Dezember beschlossen werden!

Es folgen nun drei von sehr vielen Beschlüssen. Insbesondere diese drei haben wir eingereicht und mit vorangetrieben.

Online-Basierte Themenforen

Als SPD++ haben wir 2017 die online-basierten Themenforen vorgeschlagen. Hier findet ihr eine ausführliche Beschreibung und auch die Gründe, warum ernst gemeinte Onlinebeteiligung in der SPD überfällig ist. Und wir sind glücklich, denn die online-basierten Themenforen werden in der von uns vorgeschlagenen Struktur kommen. Das haben wir beschlossen:

  • Es wird die Möglichkeit geben, sich zeit- und ortsungebunden thematisch digital zu beteiligen.
  • Die Online-Themenforen ermöglichen Vernetzung der Mitglieder über regionale Strukturen hinaus und bündeln die Kompetenzen innerhalb der SPD.
  • Online-Themenforen sind ein Zusatzangebot an die Mitglieder und sollen keine klassische Beteiligung (Ortsvereine, Arbeitsgemeinschaften) ersetzen! (Wir betonen dies ausdrücklich, weil es in der Vergangenheit teils anderslautende Unterstellungen gab.)
  • Der Begriff „Themenforum“ mag im Bezug zur Online-Welt irritierend sein. Hier sind keine klassischen Web-Foren (Webboards) gemeint. Es muss ein vielfältiges Angebot für die Mitglieder mit unterschiedlichen Zeitkontingenten geben. Von der einfachen Meinungsabfrage (Abstimmung über Anträge in den Unterforen) bis hin zur gemeinsamen Textarbeit wird es diverse Beteiligungsstufen geben.
  • Online-Themenforen spiegeln nicht die Regionalstruktur der Partei wieder. Es gäbe dann z. B. nur ein Themenforum Umwelt und nicht Foren für jeden Landesverband.
  • Die Zahl der Themenforen ist begrenzt. Die Einsetzung eines Themenforums ist an Kritierien gebunden. In den Themenforen kann es aber mehrere Unterforen geben (Beispiel: Forum „Umwelt“, Unterforen „Tierschutz“, „Wälder“, …).
  • Damit nicht einige wenige alles dominieren, kann jedes Mitglied nur in maximal zwei Themenforen gleichzeitig aktiv sein und die Mitgliedschaft in den Foren alle 12 Monate wechseln.
  • Geschlechtergerechtigkeit ist das A und O! Das gilt sowohl bei der Einsetzung von Themenforen (mindestens 50% müssen weiblich sein, die die Einsetzung fordern), als auch bei dem Beschluss von Anträgen: hier müssen 40% weiblich sein. Es wird ferner ein Katalog an „Spielregeln“ definiert, die genaue Verfahrensdetails, die Nettiquette, sowie auch weitergehende Regelung zur Geschlechtergerechtigkeit enthalten können (hier wäre z. B. denkbar, dass nach drei Beiträgen von Männern erst eine Frau kommentieren muss, bevor wieder ein Mann schreiben kann – dies ist aber nur eine Idee und nicht Teil des Beschlusses).
  • Themenforen können sich für Nichtmitglieder öffnen. Generell gilt aber: Wer mitdiskutieren will, muss nicht Mitglied sein, wer mitentscheiden will, muss Mitglied sein.
  • Online-Basierte Themenforen haben Antragsrecht auf dem Bundesparteitag. Landesverbände und andere Gliederungen können dieses Antragsrecht auch für ihre jeweilige Ebene ermöglichen.
  • Jedes Online-Themenforum entsendet zwei beratende Delegierte zum Bundesparteitag (selbstverständlich paritätisch besetzt). Auch hier können Landesverbände und andere Gliederungen dies auch für ihre Parteitage ermöglichen. Ähnlich wie bei dem Antragsrecht möchten wir die Gliederungen dazu ausdrücklich ermuntern.

Wir verweisen hier auf den Beschluss des Parteivorstands, der viele weitere Details regelt (PDF von spd.de). Weitere Details folgen dann in den „Spielregeln“, die nach dem Bundesparteitag vom Parteivorstand entwickelt werden.

Wir haben in den letzten Monaten viel diskutiert, an Feinheiten geschliffen und können als SPD++ jetzt sagen: Gut Ding braucht Weile. Uns war es immer wichtig, dass nicht konzeptlos irgendeine technische Plattform für viel Geld aufgebaut wird, sondern erst klare Regeln und Konzepte definiert werden. Es hat lange gedauert, aber die online-basierten Themenforen können kommen (sollte der Parteitag das grüne Licht geben)!

Parteicamp (Parteikonvent meets Debattencamp)

Das oberste Organ der SPD (und jeder Partei) ist der Bundesparteitag. Der findet, wenn nicht gerade mal wieder eine neue Parteispitze gewählt wird, Koalitionen gebildet werden müssen oder sonstige Unverhersehbarkeiten eintreffen, in der Regel alle zwei Jahre statt. In der Zeit dazwischen sieht die Partei aktuell einen Parteikonvent vor. Den kann man als kleinen Parteitag verstehen. In vielen Dingen ähneln sich Parteitag und Parteikonvent: die Antragsberatung erfolgt nach dem gleichen Muster. Eine Gliederung bringt einen Antrag ein, dann folgt die Aussprache – die leider häufig nicht unbedingt neue Erkenntnisse bringt. Am Ende fasst der Parteikonvent dann Beschlüsse, häufig aber viel zu wenige, weil die Zeit nicht für mehr Beratung ausreicht.

2018 haben Andrea Nahles und Lars Klingbeil zum ersten Mal das Debattencamp veranstaltet. Die Resonanz auf die Veranstaltung war großartig – sowohl bei den Teilnehmerïnnen, als auch beim medialen Echo, die beide der Partei Mut zu neuen Wegen attestierten. In kleineren Barcamps konnten Mitglieder und Gäste über Themen debattieren und zu Ergebnissen kommen. Der Nachteil war hier jedoch: Die Ergebnisse blieben oftmals folgenlos. Denn das Debattencamp hatte keine Möglichkeit, Beschlüsse zu fassen. So gab es nach dem Debattencamp einige frustrierte Besucherïnnen, die zwar die Debatte lobten, aber enttäuscht waren, dass es keine unmittelbaren Auswirkungen hatte.

Aus den beiden Gegebenheiten haben wir, Verena und Henning, eine Kombination der beiden Veranstaltungen vorgeschlagen:

  • Der Parteikonvent soll jährlich, zweitägig und öffentlich stattfinden und zwei Tage dauern.
  • Die Kombination von Debatte und Beschlussfindung wird für eine Partei jedoch völlig neuartig stattfinden (in Anlehnung an ein Barcamp-Format).
  • Parteikonvent eröffnet formal Samstagvormittag und wird dann, nach Abstimmung welche Themen behandelt werden soll, für Mitglieder und Gäste geöffnet.
  • In thematischen Workshops werden die Themenschwerpunkte diskutiert und es entsteht ein gemeinsames Meinungsbild. Die Delegierte beteiligen sich an den Workshops. In den Workshops können Änderungsanträge erarbeitet werden. Auch Initiativanträge sind möglich.
  • Die Sessions können vorab vorgeschlagen werden (durch Delegierte, Mitglieder oder Gäste). Die Antragskommission lässt den Veranstaltern von Sessions vorab alle themenbezogenen Anträge zukommen. Die Veranstalter sind dazu verpflichtet, diese inhaltlich einzubinden bzw. zur Diskussion zu stellen. Ein geringer Anteil an freien Sessions ist für Delegierte zu reservieren, die spontan zu Themen, zu denen Anträge vorliegen, Workshops anbieten können.
  • Am Sonntag werden die Ergebnisse der Workshops in Form von Elevator-Pitches vorgestellt, inkl. der Beschlussempfehlung.
  • Die Delegierten des Parteikonvents stimmen über die Ergebnisse ab.

Wir sind überzeugt: dies wird die Art und Weise, wie die innerparteiliche Willensbildung und Entschlussfindung stattfindet, revolutionieren. Dabei beachten wir die Vorgaben des Parteiengesetzes, erlauben gleichzeitig aber das Einbeziehen vieler Mitglieder oder Interessierten.

Mitgliederbeirat

Wir haben im Frühjahr 2019 das Konzept des Mitgliederbeirats in unserem Orgakom-Arbeitskreis eingebracht. Wir wünschen uns einen agilen Diskursraum, der Beschlussempfehlungen für die Partei entwickelt und als Resonanzraum für politische Fragestellungen dient. Der Mitgliederbeirat, so wie wir ihn in der Orgakom beschlossen haben, soll aus zwanzig zufällig ausgewählten Mitgliedern bestehen und paritätisch besetzt sein. Die Mitglieder dürfen keine Funktion innerhalb der Partei haben. Der Beirat berichtet an den Parteivorstand und die Sitzung der Bezirks- und Landesvorsitzenden und tagt vor allem virtuell per Web-Konferenzen. Der Beirat soll immer nur für ein Jahr tagen und wird dann neu besetzt.

Fazit

Wir haben in der Organisationspolitischen Kommission noch weitaus mehr beschlossen. Die letzten Monate waren äußerst arbeits- und zeitintensiv, doch der gemeinsame Spirit war beispielgebend. Wir möchten uns an dieser Stelle für die faire, positive, sicherlich manchmal auch kontroverse Zusammenarbeit aller bedanken. Ein weiterer Dank gilt dem Generalsekretär Lars Klingbeil, der den Innovationswillen als Leiter der Orgakom stets nach vorn getragen hat.

Es werden insgesamt die größten Änderungen seit Jahrzehnten vorgenommen. So gibt es noch viele weitere positive Aspekte, die wir hier nur kurz erwähnen wollen: Mitgliederbegehren können nun endlich auch komplett online eingereicht und durchgeführt werden, der Parteivorstand (wo es jetzt auch klare Zuständigkeiten geben soll – ja, sowas gab es vorher nicht!) und das Präsidium werden deutlich verkleinert, es wird eine Zukunftswerkstatt mit relevanten Akteuren geben und vieles mehr. Wir, Verena und Henning, tragen diese und weitere Entscheidungen mit. Klar, an der ein oder anderen Stelle hätten wir uns noch mehr vorstellen können (z. B. wie Parteitage in Zukunft ablaufen und organisiert werden können – hier kann das Parteicamp ein guter Testballon sein), dennoch soll das Ergebnis dadurch nicht geschmälert werden. Im Gegenteil: Wir freuen uns, dass die Partei diese neuen Wege gehen will. Wir hoffen auf klare Unterstützung auf dem Bundesparteitag und darauf, dass mit Zuversicht und Optimismus neue Wege bestritten werden!

So kann der Prozess zur Bestimmung der/des nächste/n SPD-Parteivorsitzende/n aussehen

Am Sonntag haben wir nach dem Paukenschlag gefordert, dass die SPD nicht wieder in die typischen Hinterzimmerstrukturen zurückfällt, sondern bei der Nachfolge im Amt des SPD-Vorsitz Transparenz gewährleistet und eine umfassende Mitgliederbeteiligung einführt. Diese Forderung stieß auf großes Interesse und wurde auch im SPD-Parteivorstand diskutiert. Doch es kommt bei der genauen Ausgestaltung des Prozesses auf viele Kleinigkeiten an: Denn gut gemeint heißt nicht direkt gut gemacht.

Wir möchten hier einen Verfahrensvorschlag machen, wie so ein Prozess aussehen könnte:

  1. Es muss ein offenes Verfahren geben. Jedes SPD-Mitglied muss die Möglichkeit haben, sich für den SPD-Vorsitz zu bewerben, wenn mindestens drei Ortsvereine es nominieren. Ja, jedes Mitglied. Jedem Bewerber und jeder Bewerberin muss jedoch auch klar sein, welche Aufgabe auf sie zukommen könnte und auch, welchem medialen Interesse sie begegnen werden bereits in der Bewerbungsphase.
  2. Alle Kandidatinnen und Kandidaten stellen sich einem mehrstufigen Verfahren. In der Vorstellungsphase sind unterschiedliche Formate denkbar:
    • Vorstellungsschreiben und Arbeitspläne
    • Vorstellungsvideos (z. B. maximal zwei Minuten)
    • Fragen aus dem Netz („Ask me anything“)
    • Fragerunden, die per Videostream ins Netz übertragen werden (inkl. „Public Viewing“ in SPD-Geschäftsstellen)
    • Klassische Regionalkonferenzen
    • Bürgeröffentliche Townhall-Formate
      uvm.
  3. In der Entscheidungsphase gibt es mehrere Varianten:
    1. Im Anschluss der Vorstellungsphase gibt es eine Mitgliederbefragung (geheim, postalisch), bei der die Präferenz der Mitglieder abgefragt wird. Die Delegierten des Bundesparteitags sind nicht an die Mitgliederbefragung gebunden, werden diese aber auch kaum ignorieren können. Bei mehr als zwei Kandidierende könne eine Rangfolgen-Wahl sicherstellen, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat zu einem bestimmten Zeitpunkt über 50% der Stimmen auf sich vereinigt.
    2. Die Mitgliederbeteiligung findet nicht-geheim statt. Dies ist bei Personalentscheidungen in Deutschland eher ungewöhnlich, bietet aber viele Vorteile: Die Abstimmungen (bzw. Unterstützungsbekundungen) wären online möglich und könnten auch mehr als nur einmal durchgeführt werden. Es wäre also möglich, mehrere Runden zu veranstalten um zuerst die Bewerberïnnen-Anzahl zu reduzieren. Der gesamte Prozess könnte so interaktiver und spannender werden, was auch der Partei als Debattenstandort helfen könnte. Die eigentliche Wahl auf dem Bundesparteitag durch die Delegierte wäre aber selbstverständlich weiterhin geheim.
    3. Es müsste einen weiteren Parteitag geben, der eine Satzungsänderung und damit eine Mitgliederentscheidung ermöglicht. Erst dann könnte dieser Mitgliederentscheid durchgeführt werden. (UPDATE: Nicht möglich, wegen Parteiengesetz §9)

Dieses Verfahren nimmt einiges an Zeit in Anspruch. Es wäre daher also klug den Bundesparteitag nicht vorzuziehen, sondern bei seinem gewählten Termin im Dezember 2019 zu belassen. Hier ist dann auch die Revisionsklausel der Koalition auf Bundesebene zu klären, also ob die SPD in der Großen Koalition bleiben soll.

Was denkst du? Welche Variante findest du besser? Kommentiere unter diesen Artikel.

Häufig gestellte Fragen

Wieso nur Mitgliederbefragung und kein Mitgliederentscheid?
Aktuell erlaubt die Satzung der SPD keinen Mitgliederentscheid. Eine (unverbindliche) Befragung ist jedoch möglich. Der oder die Parteivorsitzende muss aktuell durch die Delegierten des Bundesparteitags gewählt werden.

In welcher Form ist eine Abstimmung möglich?
Wenn es sich um eine geheime Abstimmung handelt, muss diese postalisch ablaufen. Hintergrund ist, dass eine geheime Abstimmung online nicht sichergestellt werden kann. Es handelt sich um ein sehr leidliches Thema, hierzu sei generell auf das Problem elektronischer Wahlen hingewiesen. Wenn die Abstimmung nicht-geheim stattfinden soll, ist eine Online-Abstimmung problemlos möglich. Inwiefern und ob überhaupt (mitglieder-)öffentlich nachvollziehbar wäre, wie jemand abgestimmt habe, ließe sich festlegen.

Wer ist SPD++?
SPD ++ ist eine Initiative einiger SPD-Mitglieder, die sich 2017 gegründet hat um die SPD jünger, weiblicher, vielfältiger und offener machen. Dazu hatte SPD++ einige Vorschläge zu Struktur und Verfahren der SPD unterbreitet (siehe Kampagnenseite von 2017), von denen manche auch angenommen wurden und jetzt umgesetzt werden. Seit 2018 betreiben wir diese Website als Blog (siehe Startseite). SPD++ beabsichtigt nicht für bestimmte Kandidatinnen oder Kandidaten zu werben, sondern Verfahren vorzuschlagen, die möglichst viel Beteiligung und Legitimität garantieren.

SPD-Parteivorsitz: Offenes Verfahren und Mitgliederbefragung

Was für eine nervenaufreibende, frustrierende Zeit für die SPD. Die letzten Wahlergebnisse waren für alle Menschen, die sich mit der Sozialdemokratie verbunden fühlten, traurig. Und für Politikerinnen und Politiker, die lange die SPD in Parlamenten vertreten haben, persönlich tragisch.
Der Rücktritt von Andrea Nahles ist es auch. Sie ist eine kluge Frau mit dem Herzen am linken Fleck. Sie hatte die Motivation, der SPD über den Schatten Hartz IV hinweg zu helfen. Doch sie hat auch Fehler gemacht. Ihr Rücktritt kann nun etwas auslösen, dass die SPD seit langem braucht: Eine Stunde Null.

++ UPDATE: So könnte der Prozess für eine Mitgliederbefragung aussehen. ++

Ein Moment, in dem nicht klar ist, was als nächstes passiert und vor allem, wer als nächstes führt. Das ist ein Moment, der nicht mit Gelerntem und althergebrachten Ritualen vergehen darf. In dem nicht Hinterzimmer und die, die am längsten dabei sind, entscheiden, was passiert. Wir brauchen stattdessen einen Moment der Befreiung vom Alten. Und das kann nur über eine Mitgliederbefragung und einen offenen Prozess passieren.

Nur ein offenes Verfahren ermöglicht es, dass neue Leute ihre Ideen und Visionen präsentieren können. Etwas, das wir dringend brauchen.

Nur ein offenes Verfahren wird aufzeigen, welche spannenden Mitglieder die SPD hat und welche Kompetenz in der Partei steckt.

Nur ein offenes Verfahren wird die Legitimation einer oder eines neuen Vorsitzenden in der Breite der SPD erzeugen.

Nur ein offenes Verfahren wird zeigen, ob Mitglieder erreicht und neue Kommunikationswege von der politischen Führung verstanden werden.

Und nur ein offenes Verfahren kann damit Schluss machen, dass jahrzehntelange Verhaltensweisen der Politik der alten Schule, die uns dorthin gebracht hat, wo wir jetzt stehen, belohnt werden.

Ein offenes Verfahren ist nur ein Anfang. Damit einher gehen müssen neue politische Inhalte, Projekte, Ziele, Visionen und Programme sowie langfristige Strukturänderungen, die Innovation und Legitimation schaffen.

Doch heute ist erst einmal der Moment zum Durchatmen und neu denken. Daher unterstützt unser Anliegen für ein offenes Verfahren, für Transparenz bei der Nachfolge im Amt des SPD-Parteivorsitz und eine damit einhergehende Mitgliederbefragung.

++ UPDATE: So könnte der Prozess für eine Mitgliederbefragung aussehen. ++

 

LOLSPD – Artikel13-Demozug vor dem Willy-Brandt-Haus in Berlin

Die SPD ist bei plötzlich aufkommenden Themen spontan wie ein Fahrplan – das muss sich ändern!

In einer immer schneller werdenden politischen Welt ist es wichtig, früh eine konsistente Position zu kommunizieren. „Euch glaubt doch keiner mehr“ oder „Ach jetzt auf einmal“ – wer von uns hat nicht schon eine dieser Reaktionen auf Ankündigungen und Äußerungen der Partei gelesen. Manchmal, das muss man hinzufügen, ist das leider auch verdient. Aber es könnte verhindert werden. Weiterlesen

Digitale Tools sind in der Parteiarbeit unersetzlich. Leider gibt es für viele Bereiche aktuell keine Standard-Tools, die innerhalb der SPD verwendet werden. Daher wollen wir wissen: Was für Apps, Tools und Systeme setzt ihr für die Parteiarbeit bei euch vor Ort ein? Schreibt uns!

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Der Wutsozi ist männlich. Nicht immer, aber meist.
Der Wutsozi ist ein echter Sozialdemokrat. Das sagt sein Online-Profil.
Die anderen sind Totengräber der Sozialdemokratie. Das sagen seine Tweets.
Der Wutsozi ordnet ein.

Der Wutsozi hält die SPD-Fahne hoch.
Der Wutsozi würde niemals auf dem Marktplatz etwas schlechtes über die SPD sagen.
Fünf Infostandbesucher müssen öffentlich von der SPD überzeugt werden. „Solidarität zählt“, twittert er vom Infostand an seine 500 Follower.
Der Wutsozi ist medienkompetent.

Der Wutsozi ist online. Er ist 2.0. Immer up to date.
Er kann bei jedem Presseartikel das Versagen der SPD-Oberen erkennen. Er erkennt das SPD-Versagen sogar bei einem Gastartikel von Horst Seehofer.
Bereits nach der Lektüre des ersten Absatzes ist der Wuttweet gegen die Parteispitze verfasst.
Der Wutsozi ist schneller als jeder Bot.

Der Wutsozi ist meinungsstark.
Es geht um die SPD. Morgens, mittags und abends.
Der Wutsozi würde gerne über Erfolge der SPD sprechen. Der Wutsozi spricht nicht über rote faule Äpfel.
Der Wutsozi setzt auf 100%.

Der Wutsozi fordert die Erneuerung der SPD.
Die Erneuerung der SPD bedeutet die Erneuerung der SPD.
Wenn andere in dem unmittelbaren Umfeld des Wutsozis erneuern, dann ist das ein Eingriff in die Basisdemokratie.
Der Wutsozi ist die Basis.

Der Wutsozi ist die Basis und die absolute Mehrheit in Personalunion.
Sagt er.
Und der Wutsozi hat immer recht.

Fünf-Punkte für #SPDErneuern

Diese Glosse ist der zweite Teil der fünfteiligen Artikelserie „Fünf-Punkte für #SPDErneuern“.

Bereits erschienen:

  1. Nicht zeitgemäß: Darum funktioniert die Kommunikation der SPD nicht
  2. Der Wutsozi

Weitere Artikel erscheinen in den kommenden Wochen.

„E pluribus unum“ (lat.: „Aus vielen eines“) steht auf den Hoheitszeichen der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Land, das Schmelztiegel verschiedener Völker und Ethnien ist. Die Halbzeitwahlen, die sogenannten Midterms, haben eindrucksvoll gezeigt, dass sich dieses Motto auch in der amerikanischen Politik erfolgreich praktiziert wird. Nie zuvor wurde eine jüngere Frau in den U.S. Congress gewählt. Die 28-jährige Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez möchte sich nun für eine allgemeine staatliche Krankenversicherung, für die Abschaffung der US-Einwanderungsbehörde und für einen Mindestlohn von 15 US-Dollar einsetzen. Außerdem wurden zum ersten Mal in der Geschichte der USA muslimische und indianische Frauen ins amerikanische Parlament gewählt und der erste offen schwule Mann bekam als US-Gouverneur eine Mehrheit. Und in New Hampshire ist die 27 jährige Demokratin Safiya Wazir ins House of Representatives gewählt worden. Sie ist mit ihrer Familie vor den Taliban in die USA geflohen.

Was Deutschland lernen kann

Zwar ist Bild der USA derzeit stark geprägt von einem alten, weißen Mann, der mit seinem Twitteraccount gegen Minderheiten hetzt. Die nächste Generation von amerikanischen Politikerinnen und Politiker wird jedoch weniger Donald Trump als viel mehr progressiven Politikerinnen wie Ocasio-Cortez aussehen. Nach dem Trump-Schock 2016 hat es nun im U.S. Congress eine deutliche Kräfteverschiebung hin zu einem vielfältigeren und offeneren Amerika gegeben. Die Wahl wird ein gutes Anschauungsbeispiel, wie eine breiter aufgestellte Demokratische Partei sich erneuert und damit auch eine immer vielfältigere Nation widerspiegelt.

Daraus lässt sich für Deutschland lernen, wie Integration und Vielfalt endlich überzeugend in der Politik gelingt – auch in der SPD: Zur Erinnerung: Nur 8 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben Migrationshintergrund, also weit weniger als im Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland (23 Prozent). Und die Vielfalt in Zusammensetzung der Bundesregierung hat sich seit Adenauers Zeiten fast nicht verändert. https://spdplusplus.de/spd-bunter-vielfaeltiger/

Der lange Weg zu mehr Vielfalt

Für die „Midterms“ im November wurden über 100 Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund – oder wie es in den USA besser heißt „First and Second Generation Americans“ – aufgestellt. Sie spiegeln ein modernes Amerika wider, das immer bunter wird. Es ist das Ergebnis eines langen Weges. Erst vor 50 Jahren wurde in den USA ein Wahlrechtsgesetz verabschiedet, das Afroamerikanern die volle Gleichberechtigung garantierte. Im Jahr 2008 wurde Barack Obama der erste Präsidentschaftskandidat, der zwar bei den „weißen“ Stimmen mit einem zweistelligen Prozentsatz verlor und trotzdem die Wahl gewann. Drei Jahre später waren mehr als die Hälfte der im Land geborenen Kinder von nicht weißen Eltern, darunter viele mit Migrationshintergrund.

„Zu einer lebendigen Demokratie gehört, dass sich alle Menschen in ihr engagieren. Jeder muss das Gefühl bekommen, dass nicht zählt, woher man kommt, sondern wohin man strebt, sagt Sayu Bhojwani, Geschäftsführerin des New American Leaders Project. „Es gibt neue Energie, die in den politischen Prozess eingebracht wird. Dazu gehört auch ein großes Maß an Optimismus, den Einwanderer in das Land bringen.“ Das American Leaders Project berät und trainiert gezielt und großflächig First and Second Generation Americans, die in die Politik wollen – mit Erfolg. Etwas Vergleichbares wäre auch für Deutschland und insbesondere in der sich erneuernden SPD wünschenswert. Kandierende, die Identifikation schaffen und Vielfalt wiederspiegeln waren ein Schlüssel zum Erfolg gegen Trump bei den „Halbzeitwahlen“ in den USA. Davon können wir lernen.

 

Aus der derzeitigen Schwäche der Sozialdemokratie heraus gibt es keinen Königsweg, aber das eine oder andere erprobte Rezept gibt es sicher. Ein häufig geäußerter Wunsch ist, sozialdemokratische Inhalte besser zu vermitteln. In diesem Zusammenhang wird gerne das scheinbare Zauberwort „Framing“ genannt.

Framing ist grob gesagt die Kunst, etwas sprachlich oder bildlich aus einer Perspektive darzustellen, die die eigene Argumentationslinie stützt und andere überzeugt. Ein wichtiges Mittel des Framings ist die Verwendung von Metaphern: So wird von unserem sozialen Sicherungssystem als „Netz“ gesprochen, das Menschen auffangen, also Sicherheit geben soll. Dieses „Netz“ wurde aber auch schon als „Hängematte“ umgedichtet, in der sich einige angeblich auf Kosten anderer ausruhen. Diese Umdichtung kann argumentativ als Bild verwendet werden, um z. B. soziale Kürzungen zu motivieren. Weiterlesen

Die SPD hat heute offiziell die neue Online-Plattform „Debattenportal“ gestartet. Damit gibt der Parteivorstand den Mitgliedern die Möglichkeit, online zu vier Themenbereichen zu diskutieren und grundsätzliche Vorschläge zur Parteiarbeit zu machen. SPD++ forderte letztes Jahr die Einführung von online-basierten Themenforen. Haben wir diese nun? Weiterlesen

Wer kennt sie nicht, die leidige Debatte um die „Gendertoilette“? Der Einsatz für Unisex-Toiletten an öffentlichen Orten dient deren Gegnern mittlerweile als Sinnbild der Abwendung linker AktivistInnen von den „wirklichen“ Probleme der Menschen. Die politische Linke würde sich mehr um den Genderstern als die Lohnerhöhung kümmern, oder die Hipster statt der Arbeiter anbeten. Belegt wird dieser Vorwurf gern damit, dass die SPD die Ehe für alle durchgedrückt, aber keinen vergleichbaren sozialpolitischen Erfolg erkämpft habe.

Diese KritikerInnen behaupten, „Identitätspolitik“ habe die Politik der sozialen Gerechtigkeit vom Spitzenplatz der politischen Ziele linker Parteien verdrängt. Speziell die Sozialdemokratie habe sich von ihrer Klientel entfernt, indem sie sich zu „Rand- bzw. Sondergruppen und deren Themen“ hingewandt und gleichzeitig die neoliberale Globalisierung als unumgänglich anerkannt habe.

Andere argumentieren, dass gesellschaftliche Vielfalt heute soziale Realität sei und nicht politisch ausgeblendet werden dürfe. Wenn Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihre Herkunft oder sexuellen Orientierung ausgegrenzt und diskriminiert würden, müsse sich linke Politik auf ihre Seite schlagen. Sie müsse ihre Hoffnungen und Probleme ernst nehmen ihre RepräsentantInnen sichtbar machen. Auch unsere Initiative SPD++ hat mit dem Credo die SPD müsse „jünger, weiblicher und vielfältiger“ werden, Identitätsmerkmale der RepräsentantInnen sozialdemokratischer Politik thematisiert.

Was ist denn eigentlich „Identitätspolitik“?

Was heißt denn überhaupt „Identitätspolitik“ in einem deutschen Kontext? Wer sollen diese „Rand- und Sondergruppen“ sein?

In der Regel sind damit Bevölkerungsgruppen gemeint, die sich politisch nicht nach ihrer Stellung im Produktionsprozess (also Arbeiterinnen, Angestellte oder Unternehmer etc.) zusammenfinden, sondern nach angeborenen oder zugeschriebenen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, sexueller Identität sowie Migrationshintergrund.

Ein Vorwurf an die „Identitätspolitik“ besteht darin, dass sie eine Art Stammespolitik sei, in der sich Menschen in ihren rigide abgegrenzten „Communities“ abkapseln und um das knappe Gut Anerkennung kämpfen – ohne dass die die Gesellschaft einen Meter weiterkäme. So stünden die Belange der Menschen mit Migrationshintergrund gegen diejenigen der Alten, die Probleme der Frauen müssten wiederum gegen die der Menschen mit Behinderungen abgewogen werden usw. Das schwächte die Solidarität und erschwerte gesellschaftliche Bündnisse.

Ein solches Verständnis von Identitätspolitik ist in der Tat kritikwürdig und bildet eine schlechte Basis für solidarische Politik, da es Gruppen gegeneinander ausspielt. Dennoch ist es nötig, und auf andere Art auch möglich, identitätssensible Politik auf der politischen Linken zu formulieren. Lasst uns Identitätspolitik als strukturelle Anti-Diskriminierungspolitik verstehen, die dazu beiträgt, gleiche Lebenschancen für Menschen mit unterschiedlichen Identitätsmerkmalen herzustellen.

Worum es wirklich geht

Die schwindende Stärke der Sozialdemokratie hat den Blick auf Wirkungen und Folgen der Identitätspolitik gelenkt. Drei wesentliche Fragen werden dazu oft parallel und vermischt diskutiert. Ich möchte sie kurz sortieren und eine subjektive erste Antwort als Diskussionsanstoß liefern.

Frage 1: Sind soziale Gerechtigkeit und Identitätspolitik Gegensätze?
Das zumindest suggerieren Argumente, die etwa behaupten, dass die „postmodernen Identitätspolitiken […] einen aktiven Beitrag zur neoliberalen Produktion wachsender Ungleichheit“ geleistet hätten. Ich denke, dass Identitätspolitik als strukturelle Anti-Diskriminierungspolitik Ungleichheiten verringert und nicht vergrößert. Eine Gesellschaft, in der Lebenschancen und Lebensumstände nicht durch Merkmale beeinflusst werden, die einem qua Geburt anhaften, ist eine gerechtere Gesellschaft.

Gleichzeitig hat auch Verteilungspolitik spezifische Auswirkungen auf identitätspolitisch abgrenzbare Gruppen. Was oft vergessen wird in der Rede über die Sorgen der „normalen Leute“: es sind nicht alles weiße Männer. Wer arbeitet denn in niedrig bezahlten Dienstleistungsjobs – sind das nicht überproportional Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund? Wer profitiert denn von Umverteilungsmaßnahmen und freiem Zugang zu universellen Dienstleistungen? Sind das wirklich primär männliche Industriearbeiter oder eben doch die Friseurin oder der migrantische Späti-Inhaber? Allein der Mindestlohn hat die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern um etwa ein Zehntel sinken lassen.

Wendet man den Blick von der oft kritisierten „akademischen Linken“ als Stichwortgeberin und Verfechterin einer identitätssensiblen Politik weg, und betrachtet die wirklich Betroffenen selbst, dann bleibt vom Gegensatz Gerechtigkeit vs. Identitätspolitik wenig übrig.

Frage 2: Hat die SPD bzw. hat die politische Linke soziale Gerechtigkeit zu Gunsten von Identitätspolitik vernachlässigt?
Ja, die SPD hat soziale Gerechtigkeit vernachlässigt, aber nicht zu Gunsten von Identitätspolitik, da zwischen beiden kein Konkurrenzverhältnis besteht. Um die Jahrtausendwende hat die SPD Teile der Analyse einer angebotsorientierten Wirtschaftstheorie übernommen. Sie hat in der Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik neoliberal inspirierte Reformen durchgeführt. Dort, wo Regierungshandeln zum Abbau sozialer Gerechtigkeit geführt hat, waren diese Reformen verantworlich, nicht die parallele Liberalisierung der Gesellschaftspolitik.

Warum und wie sollte die Rückkehr zu einer konservativen Gesellschaftspolitik mehr soziale Gerechtigkeit bringen? Kein Niedriglöhner hat etwas davon, wenn Männer Frauen sexistisch herabwürdigen. Keine Schule wird dadurch schneller saniert, dass homosexuelle Paare nicht heiraten dürfen. Die Konkurrenz zwischen sozialer Gerechtigkeit und liberaler Gesellschaftspolitik lässt sich maximal als Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit begreifen. Reale Zielkonflikte bestehen selten. Zudem haben beide Politikansätze einen gemeinsamen Gegner: die politische Rechte.

Frage 3: Hat die zunehmende Betonung von „Identitätspolitik“ zu einer Schwächung der politischen Linken geführt?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Leider bleiben auch die zahlreichen ProtagonistInnen dieser These eine wirkliche Begründung schuldig. Ja, die Sozialdemokratie ist seit den 1990er Jahren schwächer geworden. Ja, sie hat in dieser Zeit eine liberale Gesellschaftspolitik durchgekämpft. Nur sagt das noch nichts über einen ursächlichen Zusammenhang aus. Hier lauert ein „Danach, also deswegen“-Fehlschluss.

Auch das Gegenteil ist möglich. Vielleicht hat die jahrelange Vernachlässigung der Belange einer vielfältiger werdenden Gesellschaft zum Stimmenrückgang geführt? Beweisen lässt sich auch das nicht hinreichend. Für beide Thesen sind mir zumindest noch keine hinreichenden Belege bekannt.

Was heißt das für die SPD?

Die SPD kann in verschiedener Weise Akteur einer Identitätspolitik im oben verstanden Sinne sein. Sie kann in die Gesellschaft hinein auf die Angleichung von Lebensverhältnissen identitätspolitisch definierter Gruppen drängen und so mehr Gerechtigkeit schaffen. Und sie kann im Inneren die Vielfalt der Gesellschaft durch ihre RepräsentantInnen besser abdecken (so auch der Leitsatz von SPD++: jünger, weiblicher, vielfältiger).

Ich glaube, die SPD sollte diese Debatte selbstbewusst führen und die soziale Kraft der vielfältigen Gesellschaft sein. Sie sollte sich nicht einreden lassen, dass man nur für soziale Gerechtigkeit oder den Abbau von Diskriminierungen eintreten könne. Das Gegenteil ist der Fall. Soziale Ungleichheit in einer vielfältigen Gesellschaft ist eben auch eine durch Diskriminierungen begünstigte Ungleichheit. Die Antwort darauf muss lauten, wie sie in der Geschichte der Sozialdemokratie immer gelautet hat: Brot und Rosen, Umverteilung und Anerkennung.

Dies kann über liberale Gesellschaftspolitik geschehen, Diskriminierungsumkehr, oder der Bereitstellung von Infrastrukturen und Dienstleistungen für verschiedene Bedürfnisse. Und natürlich muss die SPD die klassischen Instrumente der Politik für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit schärfen: Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik, Steuer- und Verteilungspolitik, Wohnungspolitik und Bildungspolitik. Wenn die Gesellschaft dadurch gleicher wird, dann profitieren gerade strukturell diskriminierte Gruppen überdurchschnittlich.

Eine Strategie hingegen ist zum Scheitern verurteilt: Die Strategie, die die Perspektive der mächtigsten identitätspolitischen Gruppen einnimmt (v.a. weiße, heterosexuelle Männer), diese Gruppen zum gesellschaftlichen Standardfall erklärt und von dieser Position aus all ihre Reformoptionen ableitet. So eine Strategie ist nicht realistisch, da sie nicht sehen will, was ist. Sie ist nicht zukunftsfähig und vor allem nicht gerecht.

 

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