Auf dem Bundesparteitag im Dezember 2019 entscheidet die SPD über ihr größtes Strukturupdate in Jahrzehnten. Online-Themenforen, neue Formen der Meinungsfindung, ein Mitgliederbeirat und vieles mehr. Die organisationspolitische Kommission, in die nicht nur viele Ideen von SPD++ eingeflossen sind, sondern in der auch zwei Mitglieder von SPD++ mitgearbeitet haben, hat nun ihre Ergebnisse und Vorschläge vorgelegt.
Vorbemerkungen
Der SPD-Parteivorstand hat Ende 2018 die Organisationspolitische Kommission eingesetzt, die sich mit den strukturellen Fragen der Partei auseinandersetzen sollte. In der „Orgakom“ sollten bestehende Strukturen überprüft, modernisiert oder möglicherweise abgeschafft werden. Für uns als SPD++ war es auch wichtig, dass neue Beteiligungsformate geschaffen werden. Die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles und der Generalsekretär Lars Klingbeil haben bei der Einsetzung der Kommission betont, dass es keine Denkverbote geben darf und dass es einen großen Willen zur Neustrukturierung gibt. Neben Vertreterïnnen der Landesverbände und des Parteivorstands sowie einigen wissenschaftlichen Vertreterïnnen, wurden wir, Verena Hubertz und Henning Tillmann, mit in die Kommission berufen. Zum einen unsere Digitalexpertise, zum anderen die mit SPD++ eingebrachten Strukturvorschläge (siehe Kampagnenseite 2017) waren die Gründe für unsere Berufung – ein erstes wichtiges Zeichen der Parteispitze, dass nicht nur die „klassischen Strukturen” an der Diskussion beteiligt werden sollten. Wir haben unsere Berufung in das Gremium sehr ernst genommen und somit war es uns wichtig, viele wohl überlegte Vorschläge zur strukturellen Erneuerung einzubringen. Außerdem möchten wir transparent darlegen, wie die Debatten innerhalb der SPD aktuell verlaufen, wofür wir uns eingesetzt haben und was nun beschlossen wurde.
Arbeitsweise der Orgakom
Die gesamte Kommission traf sich nur zweimal, da sich alle auf eine Arbeitsstruktur in arbeitsfähigen Kleingruppen ausgesprochen haben. Das entscheidende zweite Treffen fand dieses Wochenende in Berlin statt. Beim Kick-Off wurden Arbeitskreise gebildet, die sich mit Teilaspekten der Erneuerung auseinandergesetzt haben. Hier gab es Arbeitskreise zum Wahlkampf, den Arbeitsgemeinschaften, der Verankerung der Partei in der Gesellschaft und einige mehr. Wir, Verena und Henning, haben uns insbesondere in dem Arbeitskreis „Strukturen und Entscheidungswege“ engagiert und Ideen eingebracht. Im Frühjahr und Sommer hatte unser Arbeitskreis gut zehn (Online-)Sitzungen. Hinzu kam viel Textarbeit, bilaterale Abstimmungen und weitere Vorbereitungszeit.
Wir möchten hier drei Themen genauer vorstellen, für die wir uns im Arbeitskreis und in der Orgakom generell eingesetzt haben, und die dort sowie im Parteivorstand eine Mehrheit fanden. Wir möchten ausdrücklich betonen, dass die Arbeitsatmosphäre in der Orgakom sehr konstruktiv war. Dem Großteil war der Erneuerungswille klar anzumerken, manche Punkte wurden kritisch diskutiert. Die hier vorgestellten Beschlüsse sind daher Gemeinschaftsergebnisse. An den ein oder anderen Stellen hätten wir, also Verena und Henning, uns auch weitergehende Initiativen vorstellen können – wir können aber die Ergebnisse voll und ganz mittragen. Alle Konzepte müssen aber noch auf dem Bundesparteitag im Dezember beschlossen werden!
Es folgen nun drei von sehr vielen Beschlüssen. Insbesondere diese drei haben wir eingereicht und mit vorangetrieben.
Online-Basierte Themenforen
Als SPD++ haben wir 2017 die online-basierten Themenforen vorgeschlagen. Hier findet ihr eine ausführliche Beschreibung und auch die Gründe, warum ernst gemeinte Onlinebeteiligung in der SPD überfällig ist. Und wir sind glücklich, denn die online-basierten Themenforen werden in der von uns vorgeschlagenen Struktur kommen. Das haben wir beschlossen:
- Es wird die Möglichkeit geben, sich zeit- und ortsungebunden thematisch digital zu beteiligen.
- Die Online-Themenforen ermöglichen Vernetzung der Mitglieder über regionale Strukturen hinaus und bündeln die Kompetenzen innerhalb der SPD.
- Online-Themenforen sind ein Zusatzangebot an die Mitglieder und sollen keine klassische Beteiligung (Ortsvereine, Arbeitsgemeinschaften) ersetzen! (Wir betonen dies ausdrücklich, weil es in der Vergangenheit teils anderslautende Unterstellungen gab.)
- Der Begriff „Themenforum“ mag im Bezug zur Online-Welt irritierend sein. Hier sind keine klassischen Web-Foren (Webboards) gemeint. Es muss ein vielfältiges Angebot für die Mitglieder mit unterschiedlichen Zeitkontingenten geben. Von der einfachen Meinungsabfrage (Abstimmung über Anträge in den Unterforen) bis hin zur gemeinsamen Textarbeit wird es diverse Beteiligungsstufen geben.
- Online-Themenforen spiegeln nicht die Regionalstruktur der Partei wieder. Es gäbe dann z. B. nur ein Themenforum Umwelt und nicht Foren für jeden Landesverband.
- Die Zahl der Themenforen ist begrenzt. Die Einsetzung eines Themenforums ist an Kritierien gebunden. In den Themenforen kann es aber mehrere Unterforen geben (Beispiel: Forum „Umwelt“, Unterforen „Tierschutz“, „Wälder“, …).
- Damit nicht einige wenige alles dominieren, kann jedes Mitglied nur in maximal zwei Themenforen gleichzeitig aktiv sein und die Mitgliedschaft in den Foren alle 12 Monate wechseln.
- Geschlechtergerechtigkeit ist das A und O! Das gilt sowohl bei der Einsetzung von Themenforen (mindestens 50% müssen weiblich sein, die die Einsetzung fordern), als auch bei dem Beschluss von Anträgen: hier müssen 40% weiblich sein. Es wird ferner ein Katalog an „Spielregeln“ definiert, die genaue Verfahrensdetails, die Nettiquette, sowie auch weitergehende Regelung zur Geschlechtergerechtigkeit enthalten können (hier wäre z. B. denkbar, dass nach drei Beiträgen von Männern erst eine Frau kommentieren muss, bevor wieder ein Mann schreiben kann – dies ist aber nur eine Idee und nicht Teil des Beschlusses).
- Themenforen können sich für Nichtmitglieder öffnen. Generell gilt aber: Wer mitdiskutieren will, muss nicht Mitglied sein, wer mitentscheiden will, muss Mitglied sein.
- Online-Basierte Themenforen haben Antragsrecht auf dem Bundesparteitag. Landesverbände und andere Gliederungen können dieses Antragsrecht auch für ihre jeweilige Ebene ermöglichen.
- Jedes Online-Themenforum entsendet zwei beratende Delegierte zum Bundesparteitag (selbstverständlich paritätisch besetzt). Auch hier können Landesverbände und andere Gliederungen dies auch für ihre Parteitage ermöglichen. Ähnlich wie bei dem Antragsrecht möchten wir die Gliederungen dazu ausdrücklich ermuntern.
Wir verweisen hier auf den Beschluss des Parteivorstands, der viele weitere Details regelt (PDF von spd.de). Weitere Details folgen dann in den „Spielregeln“, die nach dem Bundesparteitag vom Parteivorstand entwickelt werden.
Wir haben in den letzten Monaten viel diskutiert, an Feinheiten geschliffen und können als SPD++ jetzt sagen: Gut Ding braucht Weile. Uns war es immer wichtig, dass nicht konzeptlos irgendeine technische Plattform für viel Geld aufgebaut wird, sondern erst klare Regeln und Konzepte definiert werden. Es hat lange gedauert, aber die online-basierten Themenforen können kommen (sollte der Parteitag das grüne Licht geben)!
Parteicamp (Parteikonvent meets Debattencamp)
Das oberste Organ der SPD (und jeder Partei) ist der Bundesparteitag. Der findet, wenn nicht gerade mal wieder eine neue Parteispitze gewählt wird, Koalitionen gebildet werden müssen oder sonstige Unverhersehbarkeiten eintreffen, in der Regel alle zwei Jahre statt. In der Zeit dazwischen sieht die Partei aktuell einen Parteikonvent vor. Den kann man als kleinen Parteitag verstehen. In vielen Dingen ähneln sich Parteitag und Parteikonvent: die Antragsberatung erfolgt nach dem gleichen Muster. Eine Gliederung bringt einen Antrag ein, dann folgt die Aussprache – die leider häufig nicht unbedingt neue Erkenntnisse bringt. Am Ende fasst der Parteikonvent dann Beschlüsse, häufig aber viel zu wenige, weil die Zeit nicht für mehr Beratung ausreicht.
2018 haben Andrea Nahles und Lars Klingbeil zum ersten Mal das Debattencamp veranstaltet. Die Resonanz auf die Veranstaltung war großartig – sowohl bei den Teilnehmerïnnen, als auch beim medialen Echo, die beide der Partei Mut zu neuen Wegen attestierten. In kleineren Barcamps konnten Mitglieder und Gäste über Themen debattieren und zu Ergebnissen kommen. Der Nachteil war hier jedoch: Die Ergebnisse blieben oftmals folgenlos. Denn das Debattencamp hatte keine Möglichkeit, Beschlüsse zu fassen. So gab es nach dem Debattencamp einige frustrierte Besucherïnnen, die zwar die Debatte lobten, aber enttäuscht waren, dass es keine unmittelbaren Auswirkungen hatte.
Aus den beiden Gegebenheiten haben wir, Verena und Henning, eine Kombination der beiden Veranstaltungen vorgeschlagen:
- Der Parteikonvent soll jährlich, zweitägig und öffentlich stattfinden und zwei Tage dauern.
- Die Kombination von Debatte und Beschlussfindung wird für eine Partei jedoch völlig neuartig stattfinden (in Anlehnung an ein Barcamp-Format).
- Parteikonvent eröffnet formal Samstagvormittag und wird dann, nach Abstimmung welche Themen behandelt werden soll, für Mitglieder und Gäste geöffnet.
- In thematischen Workshops werden die Themenschwerpunkte diskutiert und es entsteht ein gemeinsames Meinungsbild. Die Delegierte beteiligen sich an den Workshops. In den Workshops können Änderungsanträge erarbeitet werden. Auch Initiativanträge sind möglich.
- Die Sessions können vorab vorgeschlagen werden (durch Delegierte, Mitglieder oder Gäste). Die Antragskommission lässt den Veranstaltern von Sessions vorab alle themenbezogenen Anträge zukommen. Die Veranstalter sind dazu verpflichtet, diese inhaltlich einzubinden bzw. zur Diskussion zu stellen. Ein geringer Anteil an freien Sessions ist für Delegierte zu reservieren, die spontan zu Themen, zu denen Anträge vorliegen, Workshops anbieten können.
- Am Sonntag werden die Ergebnisse der Workshops in Form von Elevator-Pitches vorgestellt, inkl. der Beschlussempfehlung.
- Die Delegierten des Parteikonvents stimmen über die Ergebnisse ab.
Wir sind überzeugt: dies wird die Art und Weise, wie die innerparteiliche Willensbildung und Entschlussfindung stattfindet, revolutionieren. Dabei beachten wir die Vorgaben des Parteiengesetzes, erlauben gleichzeitig aber das Einbeziehen vieler Mitglieder oder Interessierten.
Mitgliederbeirat
Wir haben im Frühjahr 2019 das Konzept des Mitgliederbeirats in unserem Orgakom-Arbeitskreis eingebracht. Wir wünschen uns einen agilen Diskursraum, der Beschlussempfehlungen für die Partei entwickelt und als Resonanzraum für politische Fragestellungen dient. Der Mitgliederbeirat, so wie wir ihn in der Orgakom beschlossen haben, soll aus zwanzig zufällig ausgewählten Mitgliedern bestehen und paritätisch besetzt sein. Die Mitglieder dürfen keine Funktion innerhalb der Partei haben. Der Beirat berichtet an den Parteivorstand und die Sitzung der Bezirks- und Landesvorsitzenden und tagt vor allem virtuell per Web-Konferenzen. Der Beirat soll immer nur für ein Jahr tagen und wird dann neu besetzt.
Fazit
Wir haben in der Organisationspolitischen Kommission noch weitaus mehr beschlossen. Die letzten Monate waren äußerst arbeits- und zeitintensiv, doch der gemeinsame Spirit war beispielgebend. Wir möchten uns an dieser Stelle für die faire, positive, sicherlich manchmal auch kontroverse Zusammenarbeit aller bedanken. Ein weiterer Dank gilt dem Generalsekretär Lars Klingbeil, der den Innovationswillen als Leiter der Orgakom stets nach vorn getragen hat.
Es werden insgesamt die größten Änderungen seit Jahrzehnten vorgenommen. So gibt es noch viele weitere positive Aspekte, die wir hier nur kurz erwähnen wollen: Mitgliederbegehren können nun endlich auch komplett online eingereicht und durchgeführt werden, der Parteivorstand (wo es jetzt auch klare Zuständigkeiten geben soll – ja, sowas gab es vorher nicht!) und das Präsidium werden deutlich verkleinert, es wird eine Zukunftswerkstatt mit relevanten Akteuren geben und vieles mehr. Wir, Verena und Henning, tragen diese und weitere Entscheidungen mit. Klar, an der ein oder anderen Stelle hätten wir uns noch mehr vorstellen können (z. B. wie Parteitage in Zukunft ablaufen und organisiert werden können – hier kann das Parteicamp ein guter Testballon sein), dennoch soll das Ergebnis dadurch nicht geschmälert werden. Im Gegenteil: Wir freuen uns, dass die Partei diese neuen Wege gehen will. Wir hoffen auf klare Unterstützung auf dem Bundesparteitag und darauf, dass mit Zuversicht und Optimismus neue Wege bestritten werden!